Europäisches Parlament stellt Zerfall der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn fest

Brüssel, 15. September 2022 – Im Pressedienst des Europäischen Parlaments heisst es heute:

•Die Situation hat sich so verschlechtert, dass Ungarn zu einer “Wahlautokratie” geworden ist
•Die Untätigkeit der EU hat zur Verschlimmerung beigetragen
•Mittel aus dem EU-Aufbaufonds sollten zurückgehalten werden, bis das Land die EU-Empfehlungen und Gerichtsurteile befolgt
•Mangelnde Fortschritte im Verfahren nach Artikel 7 kämen einem Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit durch den Rat selbst gleich

Das Parlament verurteilt die „vorsätzlichen und systematischen Bestrebungen der ungarischen Regierung“, die europäischen Werte zu untergraben, und fordert Ergebnisse im Artikel-7-Verfahren.

Das Fehlen entschlossener Maßnahmen der EU habe „zu einem Zerfall der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn beigetragen“ sowie zur Entstehung eines „hybriden Systems der Wahlautokratie“, d.h. eines Verfassungssystems, in dem zwar Wahlen stattfinden, aber demokratische Normen und Standards nicht eingehalten werden, so die Abgeordneten.

Der Bericht, der am Donnerstag mit 433 Ja-Stimmen, 123 Nein-Stimmen und 28 Enthaltungen angenommen wurde, baut auf der Entschließung auf, mit der das Parlament 2018 das Verfahren nach Artikel 7 eingeleitet hat, um einen Überblick über die Entwicklungen in den vom Parlament identifizierten 12 Problembereichen zu vermitteln. So wird aufgezeigt, wie sich die in Artikel 2 der EU-Verträge verankerten Werte, einschließlich der Demokratie und der Grundrechte im Land, seit 2018 weiter verschlechtert haben, und zwar durch die „vorsätzlichen und systematischen Bestrebungen der ungarischen Regierung“, verschärft durch die Untätigkeit der EU.


EU-Institutionen müssen handeln und auch zur Rechenschaft gezogen werden


Das Parlament bedauert, dass der Rat nicht in der Lage ist, nennenswerte Fortschritte zu erzielen, um den demokratischen Rückschritten entgegenzuwirken. Die Abgeordneten betonen, dass Artikel 7(1) keine Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten erfordert, um die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Werte zu identifizieren, noch um konkrete Empfehlungen und Fristen zu setzen. Jede weitere Verzögerung einer solchen Maßnahme käme einem Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit durch den Rat selbst gleich, so die Abgeordneten.

Die Abgeordneten fordern die EU-Kommission auf, alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente, insbesondere die Verordnung über die „Rechtsstaatlichkeits-Konditionalität“, voll auszuschöpfen. In einer Zeit, in der die Werte der EU durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine und Moskaus EU-feindliche Aktionen besonders bedroht sind, fordern sie die Kommission außerdem auf:

– den ungarischen Aufbauplan so lange nicht zu billigen, bis Ungarn allen länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters im Bereich Rechtsstaatlichkeit vollständig nachgekommen ist und alle einschlägigen Urteile des EU-Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt hat;
– diejenigen Kohäsionsprogramme von der Finanzierung auszuschließen, die zum Missbrauch von EU-Mitteln oder zu Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit beitragen, und
– die Dachverordnung und die Haushaltsordnung strenger anzuwenden, um gegen jedwede missbräuchliche Verwendung von EU-Mitteln für politische Zwecke vorzugehen.


Unabhängigkeit der Justiz, Korruption und menschliche Freiheiten bleiben Hauptanliegen des EP


Vier Jahre nach dem Bericht, mit dem das Verfahren nach Artikel 7 eingeleitet wurde, sind die Abgeordneten weiterhin besorgt über mehrere politische Bereiche, die die Demokratie und die Grundrechte in Ungarn betreffen. Einige der wichtigsten Bereiche sind die Funktionsweise des Verfassungs- und des Wahlsystems, die Unabhängigkeit der Justiz, Korruption und Interessenkonflikte sowie die Meinungsfreiheit, einschließlich des Medienpluralismus. Auch die akademische Freiheit, die Religionsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Gleichbehandlung, einschließlich der Rechte von LGBTIQ-Bürgern, die Rechte von Minderheiten sowie die Grundrechte von Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen seien problematisch.

Die grüne Abgeordnete Gwendoline Delbos-Corfield, Berichterstatterin des Parlaments zur Lage in Ungarn, sagte: „Die Schlussfolgerungen dieses Berichts sind klar und unwiderruflich: Ungarn ist keine Demokratie. In Anbetracht der alarmierenden Geschwindigkeit, mit der die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn zurückgeht, war es für das Parlament dringender denn je, diese Position zu beziehen. Zusätzlich zur Anerkennung der autokratischen Strategie der Regierungspartei Fidesz ist die große Mehrheit der Abgeordneten, die diese Position im Europäischen Parlament unterstützt, beispiellos. Dies sollte ein Weckruf für den Rat und die Kommission sein.” (EP/IIM)